- X.com
- Messenger
- Messenger
Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Die schottische Nationalmannschaft hat sich versteckt. Das Team trainiert an einem verregneten Vormittag im Stadion des 1.FC Garmisch hinter Sichtschutzplanen, auf denen das Logo der Uefa prangt. Ein paar Fans versuchen, durch kleine Löcher in den Folien einen Blick auf die Fußballer zu erhaschen, aber schon kommt ein Ordner herbeigeeilt und motzt: »Hey, bitte weitergehen.«
»Warum schotten die sich ab«, fragt ein Jogger in einem Deutschland-Trikot, »arbeiten die an einem Geheimplan?«
Schon möglich. Anfang der Woche hat die Mannschaft ihr EM-Quartier in der Marktgemeinde Garmisch-Partenkirchen am Fuße der Zugspitze bezogen. Auch die Engländer hatten sich für das idyllische Trainingscamp mit Alpenblick interessiert, aber der schottische Verband war mit seiner Zusage schneller.
Es gab einen großen Empfang für die Sportler mit Volkstanz- und Trachtengruppen. Danach begann Nationaltrainer Steve Clarke die Vorbereitung auf das Auftaktspiel gegen Deutschland am Freitag in der Allianz Arena in München.
Clarke, 60, ein ehemaliger Nationalspieler, der als Coach bei verschiedenen Klubs der Premier League gearbeitet hat, ist seit 2019 im Amt. Unter ihm hat sich das Team zum zweiten Mal hintereinander für eine EM qualifiziert. Davor war Schottland über zwanzig Jahre lang nicht bei einem großen Turnier vertreten.
Die schottischen Fans lieben Clarke. Der grauhaarige Fußballlehrer ist ein cooler Typ, den nichts so schnell aus der Ruhe bringt. Vor dem Spiel gegen Deutschland, einem der großen EM-Favoriten, sagte er kurz und knapp: »Sie haben eine wirklich gute Mannschaft, aber wir auch.«
Vorigen März schlug Clarkes Auswahl in einem Qualifikationsspiel in Glasgow Spanien 2:0. Vor allem dieser Sieg schürt bis heute die Hoffnungen der Anhänger, dass die Mannschaft diesmal bei der EM vielleicht sogar die K.-o.-Runde erreichen könnte.
Angeführt wird das Team von dem robusten Verteidiger Andy Robertson vom FC Liverpool und dem laufstarken Mittelfeldspieler Scott McTominay von Manchester United. Nationaltrainer Clarke hat der Mannschaft einen defensiven Stil eingeimpft, auch weil sich seine Fußballer eher schwer damit tun, Offensivaktionen zu kreieren. Über Stürmer auf Toplevel verfügt Clarke nicht. Sein treffsicherster Mann ist Mittelfeldakteur John McGinn von Aston Villa, der bislang 18 Treffer im Nationalteam erzielt hat.
Aber wie wollen die Schotten, der klare Außenseiter in der Gruppe A, der deutschen Abwehr um Antonio Rüdiger und Jonathan Tah gefährlich werden?
»Gar nicht«, sagt ein Fan, der vor dem Stadion am Gröben in Garmisch auf die Spieler wartet. Der junge Mann ist mit dem Auto aus Schottland angereist. Er sei Realist, sagt er. »Wir werden wahrscheinlich verlieren, aber das ist völlig egal, wir sind einfach stolz, überhaupt dabei zu sein.«
Drohnentechnik im Training
Auf dem Trainingsplatz haben sich die Fußballer zum Einüben von Standardsituationen versammelt. Vielleicht könnte das zum Erfolg führen. Ecken und Freistöße. Individualtrainer Austin McPhee, der bei dem Premier-League-Klub Aston Villa arbeitet, gibt Kommandos, rennt hin und her, um den Spielern ihre Positionen zu zeigen.
Plötzlich steigt über dem Feld eine Kameradrohne auf, um das Geschehen von oben zu filmen.
»Go«, brüllt McPhee, der Ball segelt in den Strafraum, die Stürmer laufen ein. Aber die baumlangen Verteidiger können die Situation locker klären. So geht es ein ums andere Mal, bis McPhee wütend mit dem Fuß auf den Rasen einstampft.
Er holt die Fußballer vor einen großen Bildschirm, der am Spielfeldrand steht, und zeigt ihnen die Aufnahmen der Drohne. McPhee erklärt und erklärt, ein enormer Wortschwall. Die Angreifer in den orangen Trainingshemden schauen etwas betreten.
Chefcoach Clarke beobachtet die Szenerie, die Hände in der Jackentasche, er verzieht keine Miene. Er wird gegen Deutschland vor der Abwehrkette zwei deutlich defensiv ausgerichtete Mittelfeldspieler aufbieten. Clarke will erst mal Tore verhindern, wenn das funktioniert, wäre das schon wie ein Sieg.
Man kann die Leistungsstärke einer Mannschaft über nackte Fakten darstellen. Schottland liegt in der Weltrangliste auf Platz 39, die DFB-Auswahl auf Rang 16, der Kader Schottlands hat einen Marktwert von rund 212 Millionen Euro, der des deutschen Teams liegt bei 851 Millionen.
Alle Buchmacher setzten auf Deutschland. In den letzten Testspielen zeigten die Schotten unterirdische bis durchwachsene Leistungen: 0:4 gegen die Niederlande, 0:1 gegen Nordirland, dann ein 2:0-Sieg gegen Gibraltar, die EM-Generalprobe gegen Finnland endete 2:2.
In den schottischen Medien hagelte es zuletzt Kritik für das Team, aber Clarke winkt ab: »Ich weiß nicht, warum die Leute sich so negativ über ein paar Freundschaftsspiele äußern. Wir sollten uns auf das Turnier freuen und dort mit ein wenig Selbstbewusstsein auftreten.«
Beim letzten Training vor der Partie gegen Deutschland in Garmisch-Partenkirchen verhängen dichte Wolken die Zugspitze. Ein Polizeihubschrauber ist zu hören. Am Tag zuvor ist im Höllental ein Bergsteiger abgestürzt.
Die Spieler drehen ein paar Aufwärmrunden, Stammkeeper Angus Gunn wird vom Torwarttrainer mit harten Schüssen auf die Partie gegen Deutschland eingestimmt.
Fans in Kilts sitzen auf der Holztribüne unterhalb der kleinen Stadionkneipe »FC Stüberl«, wo jemand ein Plakat aufgehängt hat: »No Scotland, no Party«.
Invasion der Fans in München
Vor einigen Tagen hat Nationaltrainer Clarke gesagt, er sei froh um jeden Anhänger, der nach Deutschland komme, um das Team zu unterstützen. »Wir brauchen den Support«, sagte Clarke.
Er ahnte nicht, dass er damit eine Invasion auslösen würde.
Am ersten Trainingstag in Garmisch hieß es, es kämen wohl 30.000 schottische Fans nach München, am zweiten lag die Prognose bereits bei 70.000. Jetzt hat Teamsprecher Darry neue Zahlen bekommen. »Es sind offenbar weit über 100.000 Schotten angereist«, sagt er.
Die Fußgängerzone und der Marienplatz in München waren in den vergangenen Tagen fest in schottischer Hand. Die Fans sangen, tranken Bier und machten sich einen Spaß daraus, Fußbälle durch die Luft zu schießen. Und egal mit wem man sprach, alle hatten sich auf einen langen Aufenthalt in Deutschland bei der EM eingerichtet.
Gerhard Pfeil
Jahrgang 1967 und seit 1995 beim SPIEGEL. Berichtet seit mehr als 20 Jahren über die Nationalmannschaft und führte noch Anfang des Jahres ein langes Gespräch mit Bundestrainer Nagelsmann. Von der EM erwartet er: Schöne Erlebnisse mit Fans, Fußball, der begeistert – und weniger genervte Debatten über das deutsche Team.
