Bürgerkrieg im Sudan: »Somalia auf Steroiden« (2024)

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Globale Gesellschaft
Bürgerkrieg im Sudan: »Somalia auf Steroiden« (1)

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechendeAnsätzefür die Lösung globaler Probleme.

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Hamid Adam erinnert sich noch genau an die Uhrzeit: 8.45 Uhr. Die Woche hatte gerade begonnen, da schallte eine Explosion durch die Alarbeen Street in Al-Faschir. Der 65-Jährige ahnte schon, was folgen würde, und so kam es auch. Kurz nach dem ersten Einschlag zerstörte ein weiteres Geschoss das Haus eines Bekannten. Die Artillerie kam also näher. Das dritte Geschoss explodierte direkt vor Adams Haus, so erzählt er es. »Alles wurde zerstört, mein Haus gibt es nicht mehr. Das waren mächtige Raketen, die Stein und Berge sprengen können. So etwas richtet man doch nicht auf Menschen!«

Auch das Haus seiner Nachbarin wurde getroffen, »Gott habe Erbarmen mit ihrer Seele«, seufzt Adam. »Wir haben noch versucht, das Feuer zu löschen, aber es half nichts, wir haben es nicht aus bekommen.« Der ganze Straßenzug läge nun in Trümmern, erzählt der Sudanese. Und ruft dann noch: »Wo ist die internationale Gemeinschaft?«

Der Bürgerkrieg im Sudan ist die wohl größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart. Zehn Millionen Menschen sind mittlerweile aus ihrer Heimat vertrieben, entweder innerhalb des Sudan oder ins Ausland. Seit April 2023 bekämpfen sich die beiden einst mächtigsten Generäle des Landes mit allen Mitteln und legen dabei ihr ganzes Land in Schutt und Asche. Wie viele Menschen gestorben sind, weiß niemand genau, es könnten Zehntausende sein.

Der Anführer der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), General Mohammed Dagalo, kämpft gegen die reguläre sudanesische Armee unter Abdell Fatah al-Burhan. Im April 2023 brach der »Krieg der Generäle« aus, wie er oft bezeichnet wird. Ein Bürgerkrieg, der das Land ins Chaos stürzte, der die Millionenstadt Khartum in ein Schlachtfeld verwandelte, der sich immer weiter ausbreitete und ein normales Leben seither unmöglich macht.

Der Sudan hat 47 Millionen Einwohner, war einst eine der größten Volkswirtschaften Subsahara-Afrikas, auch wegen des Erdöls. Die sudanesische Regierung stoppte im Auftrag Europas Flüchtlinge auf dem Weg Richtung Mittelmeer. All das ist nun passé. Es ist eine Tragödie gespenstischen Ausmaßes, die allerdings kaum Beachtung findet. Ein vergessener Krieg.

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Die EU-Sonderbeauftragte für die Region, Annette Weber, hat am Flughafen in Oslo kurz Zeit zu telefonieren. Sie jettet seit Monaten um die Welt, versucht Gespräche in Gang zu bringen, eine friedliche Lösung voranzutreiben. Erst vergangene Woche hat sie wieder mit den Generälen persönlich gesprochen. Vergeblich. »Die wahrscheinlichste Lösung ist derzeit ein lang andauernder vernichtender Bürgerkrieg mit zahlreichen Warlords und Fronten, also ein kompletter Zerfall des Landes.« Optimismus klingt anders. Ihr Kollege aus den USA drückte es kürzlich so aus: »Der Worst Case ist eine Art 25 Jahre andauerndes Somalia auf Steroiden.« Ein schier endloser Krieg also, in dem jeder gegen jeden kämpft.

Längst hat der sudanesische Bürgerkrieg eine internationale Dimension erreicht. Zahlreiche weitere Länder mischen mit: Ägypten, Saudi-Arabien und Iran unterstützen die sudanesischen Streitkräfte, die Vereinigten Arabischen Emirate unterstützen die RSF, auch Moskau hat Waffen an die Paramilitärs geliefert. »Das ist ein gefährliches Szenario, wir könnten die komplette Region an Russland verlieren, dann hätte der Kreml einen riesigen Einflussgürtel in der gesamten Sahelzone«, fürchtet Annette Weber. Der Krieg ist also auch ein geopolitischer Super-GAU, und eine friedliche Lösung ist nicht in Sicht. Beide Kommandeure hoffen noch auf militärische Geländegewinne.

Der Fall von Al-Faschir steht unmittelbar bevor

Besonders drastisch ist die Lage in Darfur. Mit der Regierung verbündete Einheiten der sogenannten Janjaweed, einer arabischstämmigen Reitermiliz, mordeten, verstümmelten und vergewaltigten in den Jahren 2003 und 2004 die afrikanischstämmige Bevölkerung – der frühere Machthaber Omar al-Baschir wurde dafür wegen Völkermordes angeklagt. Heute, 20 Jahre später, sind aus den Janjaweed die Rapid Support Forces hervorgegangen, und wieder richten sie in Darfur unbeschreibliches Unheil an. In mehreren Orten kam es bereits zu Massakern mit Tausenden Toten, manche Beobachter sprechen erneut von Anzeichen eines Völkermordes.

Al-Faschir ist die letzte größere Stadt in Darfur, die noch in den Händen der sudanesischen Streitkräfte liegt. Doch die sind längst eingekesselt, und seit dem 10. Mai schicken die RSF täglich Mörser und Drohnen mit Sprengkörpern in den Kessel. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Al-Faschir fallen wird, da sind sich alle Beobachter einig. Weite Teile der Stadt sind zerstört, die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner in Flüchtlingslager gezogen. In den umliegenden Regionen sieht es nicht besser aus.

Durch Feuer zerstörte Flächen (dunkel) im Dorf Masteri in Darfur zwischen November 2023 und Februar 2024

Fotos: Sentinel Hub

Schwarz, rot, gelb und grün, so teilen sie in Al-Faschir die Opfer ein. Schwarz heißt: katastrophal, akute Lebensgefahr. Gestern wurden neun schwarze und acht rote Fälle in die letzte verbliebene Klinik eingeliefert, 45 insgesamt. »Es ist schrecklich, nirgendwo ist es sicher, rund um die Uhr schlagen die Geschosse ein«, erzählt Maximilien Kowalski, Landesverantwortlicher für den Sudan bei Ärzte ohne Grenzen.

Das Wort Klinik sei eine Übertreibung, sagt er. Denn inzwischen operieren die Chirurgen in einer Entbindungsstation, das bisher genutzte South Hospital musste vor einigen Tagen schließen, nachdem bewaffnete RSF-Truppen vorfuhren, sieben Mann in zwei Fahrzeugen. Sie stürmten das Krankenhaus und schossen um sich. Schon zuvor wurde die Klinik mehrfach von Gewehrsalven getroffen, die Frontlinie war nie weit entfernt. Nun wird also in der Entbindungsstation operiert, in einem anderen Teil der Stadt, ohne die nötige Ausrüstung, wenigstens einen Generator gibt es inzwischen, und damit Strom.

Es fehlt am Nötigsten

In den vergangenen Tagen ist es Ärzte ohne Grenzen gelungen, ein paar Hilfsgüter nach Al-Faschir zu bringen, auch Medikamente. Sie durften die RSF-Checkpoints passieren. »Doch es fehlt noch immer am Nötigsten, wir brauchen dringend mehr Unterstützung der internationalen Gemeinschaft«, fordert Kowalski. Die allerdings schaut derzeit vor allem auf den Nahostkonflikt und den Krieg in der Ukraine.

»Die Menschen werden ohne Grund getötet, die Angriffe sind völlig wahllos. Niemand interessiert sich für unsere Menschenrechte, niemand hat uns geholfen«, sagt Mohammad Mousa, ein Bewohner von Al-Faschir. Seit Tagen sucht er seine Kinder, sie sind seit einem Bombardement nicht mehr aufzufinden. So geht es vielen in der Stadt: »Ich versuche meine Angehörigen aufzuspüren, kann weder essen noch schlafen, es gibt sowieso nichts mehr zu kaufen, alle Läden haben zu«, sagt der 30-jährige Taj-alseer Ahamed. Er habe Malaria bekommen, doch in der Klinik wurde er weggeschickt, weil es keine Ärzte gäbe. »Wo sollen wir nur noch hin?«

Am Dienstag dieser Woche hat sich immerhin der Internationale Strafgerichtshof zu Wort gemeldet. Der Chefankläger Karim Khan ermittelt schon länger zu den aktuellen Kriegsverbrechen, nun forderte er in einem Videostatement Zeugen auf, Beweismaterial nach Den Haag zu schicken. »Ich bin extrem beunruhigt über die Vorwürfe, dass in Al-Faschir und Umgebung weitreichende Verbrechen begangen werden«, sagte er.

Dabei sind viele der bisherigen Gräueltaten recht gut dokumentiert. Khans Ansprache war wohl vor allem ein Appell gegen das Wegsehen: »Wir dürfen nicht zulassen, dass die Grausamkeiten in Darfur von der Welt ein zweites Mal vergessen werden.« Immerhin: der Uno-Sicherheitsrat hat am Donnerstag ein Ende der Belagerung Al-Faschirs durch die RSF gefordert. Dass die sich davon beeindrucken lässt, ist kaum zu erwarten.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

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Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft.

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Author: Lakeisha Bayer VM

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